Weil alle Kinder es wert sind

Mehr Chancengerechtigkeit durch klare Familienförderung – das fordert Dr. Frank Johannes Hensel in seinem „Gastbeitrag für Wohlfahrt Intern“. 

156 familienpolitische Leistungen gibt es in Deutschland. Wenn selbst Fachleute die Instrumente und deren Wirkungen kaum überschauen, wie soll es dann erst Familien gelingen? Das Zusammenspiel der Leistungen ist unsystematisch und widersprüchlich, Wirkungen sind nicht aufeinander abgestimmt. Die Folge ist, dass insbesondere bei Familien mit niedrigem Einkommen und im Sozialleistungsbezug zu wenig Förderung ankommt.

Studien der Armutsforschung sind voller Beispiele dafür, wie stark Kinder aus ärmeren Verhältnissen von sozialer Teilhabe ausgeschlossen sind. Das ist kein Naturgesetz. Es ist zu ändern, braucht allerdings die Kraft und den politischen Willen dazu.

Kindergeld, Kinderfreibeträge, sächliches Existenzminimum, Kinderzuschlag, Bildungs- und Teilhabepaket haben allesamt den Anspruch, Kinder und Familien zu fördern. Das Zusammenspiel dieser Instrumente ist jedoch ausgerechnet für Kinder aus ärmeren Verhältnissen ungerecht.

Kindergeld als Ausgleichszahlung

Ein Beispiel: Durch das monatlich ausgezahlte Kindergeld entsteht der gute, aber falsche Eindruck einer nur nach der Kinderzahl gestaffelten gleichen Kinderförderung für alle Familien. Faktisch sind die Kindergeldbeträge aber für die meisten Familien nur die abschlagsmäßige Ausgleichszahlung für die monatliche Fehlbesteuerung von Einkommensanteilen, die aufgrund der Kinder steuerbefreit sind. Denn persönliches Einkommen, das zur Sicherung des eigenen und des kindlichen Existenzminimums verdient wird, ist grundsätzlich steuerfrei und muss vollständig bei der Familie bleiben. Spätestens beim Lohnsteuerjahresausgleich sind den Familien diese zu viel gezahlten Steuern ohnehin zu erstatten.

Nur für eine kleine Gruppe von Familien mit sehr moderatem Einkommen übersteigt das Kindergeld die Höhe der Fehlbesteuerung – nur für diese Familien kommt also mit dem Kindergeld etwas Finanzkraft hinzu. Für die allermeisten ist das Kindergeld aber keine zusätzliche Geldleistung, hilft lediglich Monat für Monat dabei, der Fehlbesteuerung entgegenzuwirken.

Oftmals unbekannt ist, dass im Fall von Arbeitslosengeld II das Kindergeld als Einkommen angerechnet wird. Das bedeutet, dass die Sozialleistung um die Höhe des Kindergeldes gekürzt wird. Bei diesen Familien kommt das Kindergeld faktisch gar nicht an.


Ein eklatantes Beispiel für fehlende Transparenz und damit Ansatzpunkt für Verbesserungen ist die kaum wahrgenommene Diskrepanz zwischen dem festgelegten Existenzminimum im Steuerrecht und im Sozialrecht.


Denn es ist nicht nachvollziehbar, dass das monatliche Existenzminimum im Sozialrecht (245 Euro für unter Sechsjährige, 302 Euro für Kinder von sechs bis 13 Jahren und 322 Euro für ältere Kinder) so deutlich unter dem steuerlich freigestellten Existenzminimum pro Kind von monatlich 635 Euro liegt. 


Nur ein Drittel der Berechtigten ruft BuT-Leistungen ab


Der Gesetzgeber begründet diesen enormen Unterschied damit, dass zum ausgezahlten Kinderregelsatz (Hartz IV) anteilige Zuschüsse für Miete und Strom sowie Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket (z. B. Schulbedarf, Mittagessen) hinzukommen. Sie schließen diese Lücke jedoch längst nicht vollständig und werden im Falle des Bildungs- und Teilhabepakets auch nur auf Nachweis und Antrag voll ausgezahlt. Tatsächlich ruft nur etwa ein Drittel der berechtigten Familien solche Leistungen ab. Gründe sind das Antragsverfahren, Unwissen oder Scham.  

Doch selbst wenn Familien alle Ansprüche geltend machen und alle Formulare fristgerecht ausfüllen, bleibt eine Diskrepanz zwischen dem steuerrechtlichen und dem sozialrechtlichen Existenzminimum für Kinder. Somit wird für Kinder von Familien, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, staatlicherseits ein weit geringeres soziokulturelles Existenzniveau abgesichert als für die Kinder von Familien in auskömmlicheren Verhältnissen. Das stützt die Kritik von Kirchen, Sozialverbänden und Forschungsinstituten an der Berechnung der Regelsätze.

Es wäre nur fair, wenn die Solidargemeinschaft allen Familien mit Kindern den vergleichbaren Geldbetrag zur Sicherung der Existenz direkt verfügbar machte. Bei vorhandenem Einkommen müsste dieses Geld also auch gar nicht erst Monat für Monat besteuert und unter dem Begriff Kindergeld abschlagsmäßig rückerstattet werden.
 

Weil alle Kinder es wert sind, braucht es eine klare, wirkungsvolle Familienförderung. Dazu gehören:

·   die Entflechtung steuersystematischer und förderpolitischer Ziele, denn was Fehlbesteuerung kompensiert, ist keine echte Förderleistung

·   die vorbehaltlose Integration der Leistungen für Bildung und Teilhabe in die Hartz-IV-Regelsätze

·    die Schließung der Lücke zwischen dem Existenzsicherungsniveau für Kinder im Steuerrecht und im Sozialrecht. 


Es diskutierten: Prof. Dr. Georg Cremer, ehemaliger Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Matthias Dantlgraber, Bundesgeschäftsführer des Familienbundes der Katholiken, Bettina Weise, Referentin DFA Familienbund beim Kolpingwerk Diözesanverband Köln, Dr. Steffen J. Roth, Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln, Eva Welskop-Deffaa, Vorstand Sozial- und Fachpolitik des Deutschen Caritasverbandes und Dr. Frank Johannes Hensel, Diözesan-Caritasdirektor für das Erzbistum Köln. 

1 Der Steuerfreibetrag pro Kind beträgt im Jahr 2019 insgesamt 7.620 Euro und setzt sich zusammen aus dem sächlichen Existenzminimum plus einem Freibetrag für Betreuung, Erziehung und Ausbildung. Pro Monat ergibt sich so ein steuerrechtlicher Freibetrag von 635 Euro pro Kind. Er kann auf der Lohnsteuerkarte eingetragen werden, findet unterjährig jedoch nur für die Berechnung des Solidaritätszuschlags Anwendung, nicht für die Einkommensteuer.


2 Einen guten Überblick gibt das Rechtsgutachten von Prof. Dr. Anne Lenze für das Land Niedersachsen vom 5.8. 2019: „Die Ermittlung der Bedarfe von Kindern“.

© Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V.

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