„Ein Rückzug von den Menschen ist keine Option“

Den Diözesan-Caritasverband durch die unruhigen und vor allem unbekannten Fahrwasser der Corona-Pandemie steuern, das hat die Arbeit von Diözesan-Caritasdirektor Dr. Frank Johannes Hensel 2020 maßgeblich bestimmt. Ein Gespräch mit ihm über die Herausforderungen dieser ungewöhnlichen Zeit und die erste Halbzeit als Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen. 

Herr Dr. Hensel, ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnliches Jahr liegt hinter Ihnen. Im Januar 2020 haben Sie den Vorsitz der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) der Freien Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen übernommen, dann kam schon sehr bald Corona. Was hat das für Ihre Arbeit als Diözesan-Caritasdirektor, aber auch als LAG-Vorsitzender bedeutet?



Dr. Hensel: Ja, es war ein besonderes Jahr, das uns alle auf besondere Weise zusammengeführt hat – obwohl wir ja mit lauter Abstandsgeboten umgehen müssen. Vieles findet nur virtuell statt, doch viele sehen oder hören sich deutlich häufiger, das gilt nicht nur für die Kontakte zu Menschen hier im Haus, auch zu den Verbänden vor Ort, zu übergeordneten Gremien und staatlichen Stellen. Wir haben in der Corona-Zeit neue, virtuelle Zirkel gebildet, zum Beispiel mit etlichen Fachkolleginnen und -kollegen unseres Hauses, die in den verschiedensten Beratungsdiensten tätig sind. Wir hatten hybride Leitungsrunden mit zugeschalteten Mitarbeitenden. Ich habe Kommissionssitzungen und sozialpolitische Sprechertreffen auf Ebene des Deutschen Caritasverbandes vom häuslichen Schreibtisch aus wahrgenommen und regelmäßige Telefonkonferenzen mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener NRW-Landesministerien. Diese Form der Digitalisierung spart enorm Zeit und Wege. Videokonferenzen sind eine inzwischen geschulte Erweiterung unserer Kommunikationsmöglichkeiten und damit auch eine Erleichterung der Verbandsarbeit. Aber wir stellen natürlich auch Grenzen fest. Neue Kontakte und Vertrauen aufzubauen, ist auf virtuellem Wege schwierig. Es ist sowohl in der Netzwerkarbeit als auch in der direkten Beratung kein optimales Modell, rein digital unterwegs zu sein.

Darin bestand sicher auch eine der großen Herausforderungen dieser Zeit: Die Menschen waren aufgefordert, sich ins häusliche Umfeld zurückzuziehen, in vielen Arbeitsbereichen des Verbandes ist dies aber gar nicht möglich.

Dr. Hensel: Genau, die sozialen Dienste sind in hohem Maße nicht zu virtualisieren. Da geht es um direktes, persönliches Miteinander, in der Pflege ebenso wie in etlichen Beratungsprozessen und in der Betreuung. Für uns ist ein Rückzug von den Menschen keine vernünftige Option. Wir müssen erreichbar sein, verfügbar sein in vielen Zusammenhängen, auch persönlich und körperlich. Das lässt uns zu denen gehören, die praktisch immer präsent geblieben sind, und hat gezeigt, dass wir für den Mitmenschen relevant und von daher systemrelevant sind.

Wenn wir auf das Beispiel Altenpflege schauen: Die Einrichtungen standen vor enormen Herausforderungen. Stichwort Besuchsverbot – Sie haben stets für kreative Lösungen gekämpft.

Dr. Hensel: Bei aller Nähe zu Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Besuchenden ist es doch immer ein Balanceakt zwischen Kontaktreduktion und Kontakthalten. So standen wir irgendwann vor der Frage: Wie ermöglichen wir den Menschen in den Einrichtungen seuchenhygienisch verantwortbare Besuche? Wir haben uns da rangearbeitet und kreative Besuchssettings geschaffen. „Begegnen mit Barrieren“, kann man sagen. Im Laufe der Monate haben wir so zu einem lebendigen und wandelbaren Umgang gefunden, der die Balance zwischen Distanz und Kontakt, zwischen Schutz und Freiheitsrechten austariert. Wir haben mit den Trägern vor Ort darauf hingewirkt, sich nicht mit einer Abschottung zufriedenzugeben und verantwortbare Wege für die lebenswichtigen Begegnungen zu ebnen. Am Anfang gab es noch die Annahme, dass man nur über einen Berg wegkommen müsse und dann sei ja hoffentlich bald wieder alles beim Alten. Doch je mehr deutlich wurde, dass wir längerfristige Lösungen brauchen, desto besser gelang es auch, eine Balance innerhalb des Infektionsgeschehens zu finden.

Wie war die Zusammenarbeit mit der Politik, mit den zuständigen Ministerien, in dieser Zeit?


Dr. Hensel: Wir sind praktisch aufeinander angewiesen, weil doch klar ist, dass der soziale Sektor dringend gebraucht wird. Ob eine Vorgabe in der Praxis Sinn macht oder überhaupt umsetzbar ist, können wir gut beurteilen. Darum haben die Ministerien uns mal rechtzeitig, mal sehr spät und leider bisweilen auch zu spät eingebunden, um ihre zahlreichen Verordnungen mit den Einschätzungen der Wohlfahrtsverbände abzugleichen. Auf Landesebene haben wir das über die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege organisiert. Dort haben feste Arbeitskreise zwischen den Spitzenverbänden und den verschiedenen Fachministerien für einen regelmäßigen Austausch gesorgt. Immer wieder wurden auch die Ministerinnen und Minister direkt mit unserem gut begründeten Unmut behelligt.

Schauen wir noch einmal auf den Anfang des Jahres. Sie hatten ursprünglich wahrscheinlich andere Ideen, die Sie für Ihr Haus, aber auch als LAG-Vorsitzender umsetzen wollten. Was davon ist gelungen? Welche Pläne hat Corona verhindert?

Dr. Hensel: Eines meiner Ziele war, die Zusammenarbeit mit den örtlichen Ligen, also den Zusammenschlüssen der Wohlfahrtsverbände auf kommunaler Ebene, zu stärken. Das ist zumindest auf informatorischer Ebene geschehen. Wir haben als LAG beispielsweise das Informationsmedium „Coro-Letter“ eingeführt, einen Newsletter der Geschäftsführung, das gab es vorher so nicht. Die Corona-Situation hat die bündelnde und verbindende Funktion der LAG verstärkt. Ein nächster Schritt werden neue Konferenzformate zwischen der LAG auf Landes- und Ortsebene sein.

Ein weiteres Ziel war, die gemeinnützige Daseinsvorsorge als konstitutionell klugen und gemeinwohlorientierten Ansatz deutlicher zu positionieren und zu profilieren. Das gelingt in Krisen sogar etwas besser, wie auch schon in den Jahren der hohen Flüchtlingszahlen. Es wird seitens der Politik nur auch schnell wieder vergessen. Die Corona-Zeit war die Stunde des gemeinnützigen Sektors und seiner enormen Bedeutung für die Daseinsvorsorge. Wir gehören zu den gesellschaftlichen Kräften, die eben einfach nicht wegbrechen dürfen.

Stichwort Schutzschirm, das ist ein Instrument, das auch für den sozialen Sektor existenziell ist. Sie gehörten zu denjenigen, die sich dafür starkgemacht haben.

Dr. Hensel: Wir sind dafür eingetreten, dass der soziale Sektor mit unter die Schutzschirme des Landes kommt. Das haben wir in weiten Teilen auch erreicht. Wichtig wird nun der Übergang werden, dass die Schutzmechanismen auch für das Folgejahr greifen, denn Corona geht ja nicht weg. Es darf jetzt nicht zu einem Ermüdungsbruch kommen, sozusagen dem Zerfall der Schutzschirme, denn dann würden Einrichtungen rettungslos dastehen. Es geht jetzt um das Durchhalten auf allen Ebenen. Zur Halbzeit meines LAG-Vorsitzes kann man also sagen: Wir haben noch reichlich Weg vor uns. 


Welche wichtigen Erkenntnisse haben Sie in Ihrem eigenen Haus, im Diözesan-Caritasverband, während der Corona-Zeit gewonnen?

Dr. Hensel: Zuerst einmal die Erkenntnis, dass man sich auf die Leute verlassen kann, egal wo sie sind – dass also auch im Homeoffice richtig intensiv gearbeitet wird. Wir haben gut zusammengewirkt, viele haben sich total reingehängt und mit ihrer Energie und Verantwortungsbereitschaft imponiert. Wir haben gelernt, wie wir dranbleiben am Menschen trotz der gebotenen Distanz. 

Auch wurde der Service-Gedanke noch einmal gestärkt und mit hoher fachlicher Expertise deutlich nach außen erkennbar, sowohl für die Ortsverbände der Caritas als auch bis zur Bundesebene. Wir haben zum Beispiel hier im Hause Hygienevorgaben für Kontakte in Beratungssettings aufgeschrieben, die mit den Unfallversicherern rückgekoppelt waren, wir haben FAQs zum Arbeitsrecht, Servicelisten zur Materialbeschaffung und Musterkonzepte für Testszenarien entwickelt. All diese Inhalte sind deutschlandweit von vielen anderen Wohlfahrtsverbänden genutzt worden. 

Aber wir mussten auch hinnehmen, dass unsere Gemeinschaftsformate, die profanen wie die liturgischen, unter die Räder gekommen sind. Keine Messen. Kein Sommerfest. Kein Elisabethfest. Kein Betriebsausflug. Diese Formate, die so wichtig für unsere Dienstgemeinschaft und den Zusammenhalt im Verband sind, bekommen wir unter den gegebenen Bedingungen einfach nicht hin. Da müssen wir dranbleiben und kreativ werden.


Das Gespräch führte Barbara Allebrodt.

© Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V.

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